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Titel
Die Personenwaage. Ein Beitrag zur Geschichte und Soziologie der Selbstvermessung


Autor(en)
Frommeld, Debora
Erschienen
Bielefeld 2019:
Anzahl Seiten
370 S.
Preis
€ 39,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Pierre Pfütsch, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart

Die Geschichte von Fettleibigkeit und Körpergewicht erlebt gegenwärtig einen regelrechten Boom. Insbesondere kultur- und medizinhistorisch ausgerichtete Arbeiten standen dabei in letzter Zeit im Vordergrund.1 Debora Frommelds historisch und soziologisch angelegte Dissertation reiht sich thematisch in den Reigen dieser Arbeiten ein, wobei sie jedoch den Fokus auf die Personenwaage als Instrument des Wiegens legt und das Forschungsfeld durch die Analyse eines bisher wenig beachteten Aspekts sinnvoll ergänzt. Ihr thematisch eher technikgeschichtlich ausgerichteter Zugang eröffnet dem Thema zudem einen neuen Leserkreis.

Die Studie gliedert sich in acht Abschnitte, die sowohl chronologisch als auch inhaltlich aufeinander aufbauen. Bevor die Autorin im zweiten Kapitel ihre Methode und das Forschungsdesign eingehend beschreibt, führt sie in einer Einleitung langsam in die Thematik ein, indem sie die aktuelle Bedeutung des Körpers für Aspekte von Schönheit und Gesundheit hervorhebt sowie auf gegenwärtige Trends wie das Self-Tracking und das Quantified-Self verweist. Diese Phänomene, die in der aktuellen gesellschaftlichen Diskussion kontrovers als Fluch oder Segen beschrieben werden, nimmt die Autorin erfreulich unaufgeregt zur Kenntnis und beschreibt sie ohne Wertung aus einer Beobachterperspektive.

Als Hauptquellen für ihre als Diskursanalyse angelegte Studie wählt sie insgesamt 122 Patentdokumente unterschiedlicher Personenwaagen. Diese sehr spezifische Quellengattung wird durch die Analyse von Schriften des Deutschen Patent- und Markenamtes, Kataloge und Ratgeber flankiert. Daneben sollen Zeitschriften, Zeitungen und Blogs den öffentlichen Diskurs nachzeichnen.

Das dritte Kapitel fungiert als Schnittstelle zwischen der Beschreibung des Forschungsdesigns und den Forschungsergebnissen. Zunächst wird hier ein kurzer Abriss über die Patentgeschichte gegeben und dargelegt, wie Patentunterlagen grundsätzlich aufgebaut sind, um danach das Quellenkorpus zu definieren.

Im Anschluss daran stellt Frommeld die zentralen Erkenntniskategorien ihrer Untersuchung vor: Technisierung, Individualisierung, Normalisierung, Medikalisierung und Ästhetisierung. Diese fünf Prozesse durchziehen die Entwicklung der Personenwaage von ihren Anfängen bis in die Gegenwart und sind zu Recht die ständigen Fluchtpunkte in Frommelds Argumentation.

In den nächsten drei Kapiteln wird die Entwicklung der Personenwaage vom Ende des 17. Jahrhunderts bis in die Gegenwart detailliert mit einem klaren Fokus auf das 20. Jahrhundert nachgezeichnet.

Die ersten Vermessungen des Menschen standen im Zeichen der Anthropometrie. Der belgische Statistiker Adolphe Quetelet und auch der französische Arzt Paul Broca entwickelten Kenngrößen zur Bestimmung des „Normalmenschen“, die eine Einordnung und Interpretation des Gewichtes erlaubten. Die ersten großangelegten Vermessungsversuche standen im Zeichen des Militärs. Gehörte das Wiegen bis in die 1920er-Jahre noch nicht zum Teil der Musterung, weil es zu zeitaufwändig und teuer war, änderte sich das in einer von Standardisierung geprägten Zeit. Schnell erfasste diese neben dem Militär auch andere Bereiche wie die Medizin, in der ab der Wende zum 20. Jahrhundert ebenfalls vermehrt auf das Messen und Auswerten von Daten gesetzt wurde. Das Sammeln solcher Parameter wie dem Gewicht war auch politisch gewollt, denn bei zunehmender Konkurrenz der Staaten wurde der Zustand der wehrfähigen Männer zu einer wichtigen Vergleichsgröße.

Öffentliche Personenwaagen kamen bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Sie standen meist auf städtischen Plätzen und funktionierten per Münzeinwurf. Einige Waagen druckten das Gewicht dann auf Karten auf, sodass man diese als „Souvenir“ mitnehmen konnte. Bei dieser Art des Wiegens stand noch kein gesundheitlicher Aspekt im Mittelpunkt, sondern, wie Frommeld es passend bezeichnet, ein spielerischer.

In der Zeit von 1919 bis 1959 kam es dann zu einer Diversifizierung auf dem Markt für Personenwaagen. Weiterhin gab es die öffentlichen Waagen, die bis in die 1950er-Jahre den Markt dominierten. Danach setzten sich dann verstärkt Personenwaagen für den Heimgebrauch durch. Gleichzeitig wurden professionelle Waagen für Institutionen entwickelt und vertrieben. In den 1960er-Jahren begann der Boom der Personenwaage für den Heimgebrauch, die in den Patentdokumenten mit Gebrauchsanweisungen wie „regelmäßiger Anwendung“ und „Integration in den Alltag“ beschrieben wurde. Auch in den 1970er-Jahren hielt die Hochphase weiter an, bevor sich die Personenwaage in den 1980er-Jahren endgültig als Haushaltsgegenstand durchsetzte und von da an so gut wie in jedem Haushalt zu finden war.

Im sechsten Kapitel nähert sich die Autorin der Gegenwart an und betrachtet den Zeitraum ab 1990. Bis zum Jahr 2010 war dieser durch einen „Individualisierungs- und Ästhetisierungsschub“ (S. 252) gekennzeichnet, welcher sich auch in der Personenwaage manifestierte. So konnten jetzt neben dem Gewicht auch andere Faktoren wie Körperfett, Wasser sowie Knochen- und Muskelmasse gemessen werden und darüber hinaus all diese Kennziffern auch mit Individualdaten wie Größe, Geschlecht und Alter in Beziehung gesetzt und dementsprechend differenziert interpretiert werden. Ob all diese neuen individuellen Möglichkeiten jedoch wirklich die Gesellschaft durchdrungen haben und somit tatsächlich zur Individualisierung beigetragen haben, vermag Frommelds Diskursanalyse nicht aufzuzeigen. Hierzu hätten die Praktiken stärker in den Blick genommen werden müssen. Seit 2010 ist auf dem Gebiet der Gewichtsmessung die Digitalisierung als Trend zu beobachten. Zunehmend dienen Apps der Vermessung, Speicherung, Auswertung und Verbreitung von Daten.

Die beiden letzten Kapitel dienen sowohl als Zusammenfassung der herausgearbeiteten Ergebnisse wie auch als knappes Fazit.

Die Autorin wählt für Ihre Studie einen diskursanalytischen Zugang, den sie auch mustergültig umsetzt. Wenngleich man anmerken muss, dass sehr viel Zeit und Text auf die Darlegung und Begründung des methodischen Vorgehens gelegt wird, was an einigen Stellen zu einem Ungleichgewicht gegenüber der Darstellung der Ergebnisse führt. Gleichwohl muss die Frage erlaubt sein, ob weitere, ergänzende Zugänge zum Thema nicht bereichernd gewesen wären. Wenn man danach fragt, ob durch Gegenstände Praktiken verändert wurden, müsste man nicht dann konsequent auch die Praktiken per se stärker in den Blick nehmen? Oder wenn man die Waage als Gegenstand ernst nimmt, bieten heutzutage objektgeschichtliche Zugänge, die auch die Materialität des Gegenstandes in die Untersuchung miteinbeziehen, vielversprechende Erkenntnisgewinne. Hier verspielt Frommeld in ihrer sonst sehr vielseitigen Studie einige Potentiale. Insgesamt betrachtet liefert die Studie aber einen weiteren wichtigen Baustein zu unserem Verständnis von Körpergewicht für gesellschaftliche Zusammenhänge.

Anmerkung:
1 Nicolas Rasmussen, Fat in the Fifties. America's First Obesity Crisis, Baltimore 2019; Christopher E. Forth, Fat. A Cultural History of the Stuff of Life, London 2019; Rachel Louise Moran, Governing Bodies. American Politics and the Shaping of the Modern Physique, Philadelphia 2018; Jürgen Martschukat, Das Zeitalter der Fitness. Wie der Körper zum Zeichen für Erfolg und Leistung wurde, Frankfurt am Main 2019.

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